- Friedensnobelpreis 1975: Andrei Sacharow
- Friedensnobelpreis 1975: Andrei SacharowDer sowjetische Atomphysiker erhielt den Nobelpreis für seinen kompromisslosen Einsatz für die Menschenrechte in der Sowjetunion.Andrei Dimitrijewitsch Sacharow, * Moskau 21. 5. 1921, ✝ Moskau 14. 12. 1989; 1945 Mitarbeiter am Lebedew-Institut für Physik, 1953 Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, 1980-86 Verbannung nach Gorki (heute Nischni Nowgorod, Russland), 1989 Abgeordneter im Kongress der Volksdeputierten.Würdigung der preisgekrönten LeistungAndrei Sacharow wäre vielleicht auch ein Anwärter auf den Nobelpreis für Physik gewesen. Er gehörte zur ersten Garde der Nuklearphysiker seiner Zeit und war maßgeblich an der Konstruktion der ersten Wasserstoffbombe in der UdSSR beteiligt. Sacharow wurde aber zum Nobelpreisträger, weil er sich gegen die militärische Nutzung der Kernenergie wandte und zu einem unermüdlichen Verfechter der Menschen- und Bürgerrechte in seiner von einem kommunistischen Regime beherrschten Heimat wurde.Der Vater der sowjetischen WasserstoffbombeSacharows steile wissenschaftliche Karriere begann in der Zeit des Kalten Kriegs zwischen der UdSSR und den USA. Beide Supermächte lieferten sich einen erbitterten Rüstungswettlauf. Im November 1952 zündeten die Amerikaner ihre erste Wasserstoffbombe. Damit waren die Sowjets in Zugzwang geraten. Im August 1953 konnten ihre eigenen Tests erfolgreich abgeschlossen werden. Die Sowjets hatten mit den Amerikanern gleichgezogen. Als »Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe« galt der junge Andrei Sacharow. Das dankbare Regime stattete ihn mit den höchsten Ehren und Privilegien aus. Er verfügte über die besten Arbeitsbedingungen, und im Oktober 1953 wurde der erst 32-Jährige zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR gewählt.Schon bald aber begannen sich bei dem jungen Wissenschaftler Zweifel zu regen. Im November 1955 gab der »Held der sozialistischen Arbeit« bei einem Bankett der Hoffnung Ausdruck, dass die von ihm entwickelten Bomben niemals über Städten explodieren mögen. Ein General antwortete ihm, es sei die Sache der Gelehrten, die Waffen zu verbessern, nicht über ihre Anwendung zu entscheiden. Sacharow musste erkennen, dass die Bombe für die sowjetische Führung zum militärischen Bedrohungspotenzial im »Gleichgewicht des Schreckens« zwischen der UdSSR und den USA gehörte. Seine Beunruhigung wurde noch größer, als seine Untersuchungen den Nachweis erbrachten, welche Schäden die atomare Strahlung beim menschlichen Organismus anzurichten vermochten. Nun wurde er zum schärfsten Kritiker der eigenen Erfindung. Doch seine Ende der 1950er-Jahre immer lauter werdenden Forderungen, auf weitere Atomtests zu verzichten und die Rüstungsspirale zu beenden, stießen bei der sowjetischen Führung auf taube Ohren. KP-Generalsekretär Nikita Chruschtschow heftete ihm einen weiteren Orden ans Revers und beschied ihn im Übrigen, die Politik den Politikern zu überlassen.Vom Günstling des Regimes zum RegimekritikerDen Friedensnobelpreis erhielt Sacharow jedoch nicht für sein Eintreten gegen die militärische Nutzung der Kernkraft. Das Komitee sprach ihm vielmehr deswegen den Preis zu, weil er »kompromisslos gegen alle Formen der Verletzung der Menschenwürde und ebenso stark für die Idee des Rechtsstaats« gekämpft habe. Das Eintreten für die Menschenrechte, so hieß es weiter in der Begründung, sei »die einzige sichere Grundlage für eine aufrichtige und langfristige zwischenstaatliche Zusammenarbeit«. Vom Rüstungskritiker zum Regimekritiker wurde Sacharow in dem Maß, wie er das Herrschaftssystem der Sowjetunion zu durchschauen begann. Durch den Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei 1968 sah sich der einstige Günstling der sowjetischen Führung jedoch in seiner Kritik bestätigt. Im selben Jahr verfasste er den Aufsatz »Gedanken über den Fortschritt, die friedliche Koexistenz und geistige Freiheit«. Dieses Plädoyer für mehr Liberalität und Humanität in seiner Heimat und für eine engere Kooperation zwischen Ost und West durfte in der Sowjetunion nicht erscheinen. Der Abdruck in der »New York Times« machte Sacharow aber im Westen zu einer Symbolfigur des Widerstands gegen die Sowjetherrschaft.Die mutige Initiative bedeutete das Ende seiner beruflichen Karriere in der UdSSR. Die Machthaber schoben ihn auf einen völlig unbedeutenden Posten ab. Unbeeindruckt von allen Strafmaßnahmen führte Sacharow seinen Kampf gegen Unterdrückung und Bevormundung fort. 1970 gründete er das »Komitee für Menschenrechte«. Sein Ziel war es, die Sowjetunion zur Übernahme der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen von 1948 zu verpflichten.Anerkennung und VerbannungDie sowjetische Regierung erlaubte es Sacharow nicht, den ihm 1975 verliehenen Friedensnobelpreis persönlich in Empfang zu nehmen. Stattdessen fuhr seine Ehefrau Jelena Bonner nach Oslo und verlas Sacharows Dankesrede. In dieser ließ er mitteilen, dass er die Ehre »mit allen Gefangenen aus Gewissensgründen in der Sowjetunion und in anderen osteuropäischen Staaten wie mit allen, die für ihre Freiheit kämpfen«, teile.Erwartungsgemäß wurde die Entscheidung des Nobelpreiskomitees in der Sowjetunion scharf kritisiert. Das amtliche Nachrichtenorgan TASS sprach von einem »Preis für Antisowjetismus«. Die Akademie der Wissenschaften verbreitete eine Erklärung, in der es hieß, Sacharow habe die Sache des Friedens untergraben. Sacharow und seine Familie wurden immer stärker unter Druck gesetzt. Im Januar 1980 wurde Sacharow verhaftet und ohne Gerichtsverfahren in die Verbannung nach Gorki geschickt, wo er in totaler Isolation leben musste. Das Ende des Martyriums brachte erst der Regierungsantritt des reformfreudigen Michail Gorbatschow. Im Dezember 1986 kehrte Sacharow nach Moskau zurück. Geschwächt durch Hungerstreiks und Zwangsernährung, wollte er sich dennoch aktiv an der Demokratisierung und Liberalisierung seines Landes beteiligen. 1989 wurde er in den Kongress der Volksdeputierten gewählt. Seine radikalen Forderungen ließen ihn bald in einen Gegensatz zu Staatschef Gorbatschow geraten. Am weiteren Aufbau einer humaneren Gesellschaft teilzunehmen war ihm nicht vergönnt, denn er starb im Dezember 1989. Welche Bedeutung er für die Menschen in seinem Land hatte, lässt sich aber daran ablesen, dass mehr als 100 000 Moskauer an den Trauerfeierlichkeiten teilnahmen.H. Sonnabend
Universal-Lexikon. 2012.